1UP in History

Die Ästhetik langen Atems.

Ästhetik, Technik und Wirkung langsamer Filme.

Vorwort:

Seit es Film gibt, gibt es immer wieder auch Filmschaffende, die sich dem Diktat der Handlungsgetriebenheit von Film widersetzen. Langsame, spärliche Filme, die sich vor allem in Reduktion uben. Mit Ozu Yasujirō, Robert Bresson, Carl Theodor Dreyer seien nur drei Vertreter genannt, die sich ganz besonders einem Kino der Reduktion und Verlangsamung verschrieben haben. So ist es nicht verwunderlich, dass sich eine Genealogie eines langsamen Films zeichnen lässt, die bis in die Gegenwart fuhrt.
Einem auch durch technische Entwicklung getriebenem Paradigma des „höher, schneller, weiter“, den massenhaft produzierten Filmen des Mainstream-Kinos, die sich mit visuellen Effekten, komplex verwobenen Handlungssträngen und aufwändiger Inszenierung zu uberbieten trachten, stehen langsame Filme, wie etwa die von Bela Tarr oder Lisandro Alonso wie Anachronismen gegenuber.
Bei einem Besuch der Viennale 2013 fand ich mich in der Vorfuhrung eines stillen, kleinen Films einesjungen, frisch gebackenen Absolventen der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, einer Hochschule die mir gemeinhin nicht in erster Linie dafur bekannt war, Filmschaffende zu Experimenten zu ermutigen. Was ich in diesem Film sah war fast nichts. Es war die gänzlich unaufgeregte Vertrautheit des alltäglichen Lebens, die den Zuschauer hier sanft umfing. Nur dazwischen, zwischen dem Nichts der nicht vorhandenen Geschichte, war alles spurbar, was eine filmische Erfahrung zu einer ganz besonderen macht. E s war Ramon Zurchers Film DAS WERKWÜRDIGE KÄTZCHEN, der mich so beruhrt hatte. Ich empfahl diesen Film auch unter befreundeten Filmemachern. Die Reaktion? Langweilig, d a passiert doch nichts. Ich war erschuttert, wie wenig Sensibilität selbst Fachpublikum manchmal aufzubringen vermag.

Doch was treibt zeitgenössische Filmschaffende dazu, ihre Werke derart zu ver- langsamen? Viel wichtiger noch, was passiert mit Film, der sich dieser Art der Inszenierung verschreibt, wie wirkt er? Und bei aller Ähnlichkeit mit ihren einer vergleichbaren Herangehensweise verhafteten Vorgängern, wodurch unterscheiden sich zeitgenössische langsame Filme von ihren Vorgängern.
Die Untersuchung zu diesem Thema möchte ich anhand der Analyse einiger aktueller Filme unternehmen, die sich alle einer filmischen Ästhetik der Langsamkeit, der Reduktion und des Minimalismus verschrieben haben.

Der ungarische Regisseur Bela Tarr, geboren 1955, kundigte seinen Film THE TURIN HORSE als seinen letzten Film an. Bela Tarr gilt gemeinhin als Meister extrem langer und langsamer Kameraeinstellungen.
Jim Jarmusch, Jahrgang 1953, gilt als Ikone der Popkultur und als einer der erfolgreichsten Kunstler des amerikanischen Independent-Kinos. Seine Filme sind in unterschiedlicher Weise von Langsamkeit und Reduziertheit geprägt. STRANGER THAN PARADISE gewann 1984 die Goldene Kamera in Cannes und gilt als Meilenstein im Kino seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Was diesen Film auszeichnet und was Kritiker zum Zeitpunkt seines Erscheinens verbluffte,ist die ästhetische und narrative Strenge, durch die er sich auszeichnete.
Die Filme des Argentiniers Lisandro Alonso sind Arbeiten stilistischer Strenge und Kargheit. Ihr Minimalismus wird im zeitgenössischen Kino kaum ubertroffen. LIVERPOOL ist eine kleine Reise ohne Zweck und ohne Ziel und eine großartige Erfahrung cineastischer Kontemplation.
Der 1892 geborene und damit jungste Regisseur dieser Auswahl, Ramon Zurcher, legte mit seinem Film DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN seinen Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin vor. Seither gastiert Ramon Zurcher, von Kritikern hochgelobt, auf den Filmfestivals.

Einleitung:

„I actually remembered rubbing my eyes with my fists in a comedy gesture during the screening, convinced, for one split second, that I had fallen asleep, that only my unconscious could have come up with such a texture of sensation.“
Tilda Swinton, A Letter to a Boy from his Mother. (Vertigo 2006)

„Unsere Kultur beruht auf dem Übermaß, der Überproduktion; das Ergebnis ist ein stetig fortschreitender Ruckgang der Schärfe unserer sinnlichen Erfahrung. Sämtliche Bedingungen des modernen Lebens – sein materieller Überfluss, seine Überladenheit – bewirken eine Abstumpfung unserer sensorischen Fähigkeiten.”
Susan Sontag, Gegen Interpretation (Sontag 1980, S.18)

I.
Fast Nichts

Am Anfang war der Film ein Medium der Reduktion. Die Bildqualität ließ wohl mehr als zu wunschen ubrig, das Bild war einzig schwarzweiß, grobkörnig und auf Ton musste verzichtet werden. „Die Reduktion war allerdings nicht Resultat einer bewussten, einer ästhetischen Entscheidung, sondern Folge der technischen Standards.“ (Grob et al 2009, S.7). Seine ersten Abbildungen waren etwa die Alltagssituationen eines in einen Bahnhof einfahrenden Zuges, eines Säuglings der gefuttert wurde, von Arbeitern einer Fabrik. Oftmals waren es zufällige Bilder, die dem Menschen, der die Kamera bediente, in diesem Augenblick zugänglich waren. So handelt es sich bei den Protagonisten von LA SORTIE DE L'USINE LUMIÈRE À LYON (Louis Lumière 1895) schlicht um die Arbeiter der Lumière-Fabrik beim Verlassen just jener Fabrik, in der unter anderem die fotographischen Apparaturen entwickelt wurden, die bei der Produktion des Filmes zur Anwendung kamen. „In diesem Sinne war Lumières Kamera auf die Welt gerichtet. Als Beispiele dafur nehme man seine unsterblichen ersten Filmstreifen: LA SORTIE DE L'USINE LUMIÈRE À LYON, L ́ARRIVEE D`UN TRAIN, LA PLACE DES CORDELIERS A LYON. Sie spielen sich in der Öffentlichkeit ab, auf Schauplätzen, wo es von Menschen wimmelte.“ (Krakauer 1973, S 58) Das Spektakuläre dieser Aufnahmen war nicht das Abgebildete, sondern die Abbildung als Wunder moderner Technik an sich. Die Geschichte des erschrocken fluchtenden Publikums vor dem auf der Leinwand auf sie zu donnernden Zug ist eine bis zum heutigen Tag gerne erzählte. Ob diese Geschichte nun stimmt oder nicht, so trifft sie doch eine bis heute gultige Aussage fur das Medium. Der Film lebt – in seiner Form als Massenmedium – von der Sensation darzustellen, was bis hierhin nicht darstellbar schien. Die sogenannte Weltanschauung des Kinos sei es, so George Lukács in einem Interview schon 1913, dass alles möglich sei, seine Veränderlichkeit und sein nie ruhender Wechsel der Dinge (vgl. Grob et al 2009, S. 9). In den folgenden Jahren, da sich das Kino immer stärker zu einem zentralen Medium des Mainstreams entwickelte, konzentrierte sich der Film immer stärker auf die Erweiterung seiner technischen Möglichkeiten in Hinblick auf Abbildung „einer immer dichteren ästhetischen Illusion des Realen“ (ebd., S.8). Doch auch daruber hinaus erkannten die Filmemacher des fruhen Kinos sehr bald, dass sein große Potential im „fantasievollen Versuch [...], Fotografie zu einem Mittel des Geschichtenerzählers zu entwickeln“ lag (Krakauer 1973, S 57). So finden sich in der Geschichte des Films große Epiker wie Griffith, Ford, Hawks, Fellini, Kurosawa, Bergman, Renoir oder Visconti, deren erzählendes Kino uns bis heute in ihren Bann zu ziehen vermag.
Der existentielle Modus des Films ist die Bewegung. Ohne Bewegung gibt es keinen Film, Film ohne Bewegung ist Fotografie. So wie uber Jahrzehnte hindurch das Zelluloid durch die Kameras und die Projektoren bewegt werden musste, so musste Bewegung vor der Kamera stattfinden, um festgehalten zu werden (vgl. Mulvey 2004, S.133). Jenes Element der Bewegung bezieht sich jedoch nicht ausschließlich auf die physische Bewegung technischer Elemente einer Kamera oder physischer Objekte vor einer Kamera, sondern eben auch auf Struktur und Inhalt des Filmes. Auch die Handlung, die Erzählung ist diesem Diktat der Bewegung unterworfen. Es muss vorwärts gehen. Ist und war die Attraktion von den ersten Auffuhrungen des Kinematographen bis zum heutigen IMAX- und 3D-Kino die Bewegung im Bild an sich, so ist die Attraktion des großen epischen Erzählkinos die Bewegtheit ihrer Geschichten. Dem gegenuber, wenngleich wesentlich weniger dem Mainstream verhaftet, standen immer schon Filme, die nicht dem Kino der Attraktionen und des Spektakels zuzuordnensind. Sie sind nicht den im Hollywoodkino der Studio-Ära entwickelten Standards der Decoupage, der Suspense, der Parallelmontage, auch nicht Finalität und Klimax des Drei-Akt-Models oder der Reise des Helden, Betonung einer Katharsis uber Musik, Licht oder Großaufnahmen verpflichtet (vgl. Grob et al 2009, S. 9f).
So wie die Bewegung der dem Medium Film zu Grunde liegende Modus seiner Existenz ist, s o ist nun Langsamkeit einer der Modi der Bewegung. Diese Langsamkeit ist ein gemeinsames Merkmal einer in Folge näher zu untersuchenden Gruppe von Filmen. In unterschiedlichem Maß zeigt sich die Langsamkeit dieser Filme in ihrem visuellen Stil, ihrer Erzählstruktur, ihrem Inhalt oder auf Ebene ihrer Charaktere (vgl. Jaffe 2014, S.3), doch wenn in weiterer Folge der Eindruck einer klar abzugrenzenden Gattung des langsamen Filmes entstunde, so diente dies ausschließlich als Hilfsmittel, um uberhaupt eine subsummierende Begrifflichkeit zu finden. Zu divers sind die hier zu behandelnden Filme. Manches Publikum, das handlungsgetriebenere Kost gewohnt ist, mag verleitet sein, jedem dieser Filme eines der negativsten Urteile angedeihen zu lassen, die möglich sind: Hier passiert doch nichts! Doch Filme der in dieser Arbeit berucksichtigten Regisseure, sind von Kritikern und Festivalbesuchern vielgelobt und werden mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und daher gilt es ihre Technik, ihre Ästhetik und Ihre Wirkungsweise zu untersuchen. (vgl. Jaffe 2014, S. 2)

1.2 Eingrenzung des Themas auf Filme ab 1980.

Die hier besprochenen Filme gehören nicht zu einem bestimmten Genre, im Gegenteil verweigern sie sich einer derartige Zuordnung. Ihre Macher gehören weder einer bestimmten Schule an, noch ließen sie sich einer bestimmten Generation oder Nationalität zuordnen. Einige schaffen ausschließlich Filme, die als extrem langsam und reduziert zu bezeichnen sind, einige, wie etwa Gus Van Sant, drehen neben langsamen Filmen immer wieder Filme, die ganz und gar nicht zu dieser Kategorie zu zählen sind. (vgl. Jaffe 2014, S. 2) Wie ist also die Gruppe zu fassen, von der hier in weiterer Folge die Rede sein wird? Ein erstes Kriterium ist, dass es sich, mit Ausnahme von Manoel de Oliveir, der im April diesen Jahres verstarb, um Spielfilme von lebenden, zeitgenössischen Regisseuren handelt. Jim Jarmuschs STRANGER THAN PARADISE (1984) markiert einen wichtigen initialen Punkt innerhalb
dieser Gruppe. Auch wenn PERMANENT V ACA TION (1980) vor STRANGER THAN PARADISE entstand und unter anderem der bereits erwähnte de Oliveir lange vor Jarmusch Filme produzierte, so liegt der Fokus hier auf Filmen, die e b e n nach 1984, dem Erscheinungsjahr von STRANGER THAN PARADISE entstanden sind. 1984 gewann der Film die Goldene Kamera von Canne s , was Jim Jarmusch nicht nur zum internationalen Durchbruch, sondern einer ganzen Reihe von Filmen und Filmemachern dieser langsamen Ästhetik zur Beachtung und kritischer Rezeption verhalf.
Inhaltlich lassen sich kaum Gemeinsamkeiten zwischen diesen Filmen ausmachen. Große Themen der Filmgeschichte werden konsequent vermieden. Vielmehr sind es die Banalitäten und Alltäglichkeiten des Lebens, die hier gezeigt werden. In einem Interview beim RIFF – Reykjavík International Film Festival beantwortet Bela Tarr die Frage nach der Story in seinen Filmen wie folgt: „[...]Stories are mostly the same. When you read the old Testament, afterwards you know all stories. Everything is there. [...] brother killing brother, and holocaust and all of crime, all of joy all of war is there. That’s the reason I really am not interested in stories because we are doing more or less the same story in our life. What is the real difference, you know? The real difference is how we are doing the same old story. That’s why I am never listening to the story. I'm listening just to the people. How they are doing the story.” (Tarr 2011) Hier kommt etwas zum Ausdruck, das sich in allen der hier besprochenen Filme wiederfindet. Großes Interesse fur die Kleinigkeiten des Lebens, die immer wieder zum ausschließlichen Inhalt werden.
Formal zeichnen sich die Filme dieser Gruppe durch Reduktion unterschiedlichen Grades in all ihren gestalterischen Elementen aus. Zeitlicher Ablauf tendiert zur Gedehntheit und Verlangsamung bis hin zur Echtzeitlichkeit.Weite Einstellungen uberwiegen. Kamerabewegung ist kaum bis gar nicht wahrzunehmen. Die Montage ist zuruckgenommen, unrhythmisch und versucht nicht die Aufmerksamkeit des Publikums zu steuern. Den Filmen fehlen oftmals Spannungsbögen, Zielgerichtetheit oder Finalität.Häufig wird mit Laiendarstellern gearbeitet und Dialoge sind stark zuruckgenommen. Fur die Untersuchung ist es jedoch weniger wichtig, welcher Film nun mit Sicherheit zu dieser Gruppe zu zählen ist, als vielmehr bestimmte formale Kriterien zu erarbeiten, die in ihrer Summe einen Film bestimmten Ausdrucks und bestimmter Funktionsweise kennzeichnen.
Filme, die in dieser Arbeit exemplarisch herangezogen werden, um verschiedene Aspekte und Elemente zu verdeutlichen, sind Jim Jarmuschs STRANGER THAN PARADISE, Bela Tarrs WERCKMEISTER HARMONIES (2000) und THE TURIN HORSE (2011), Lisandros Alonsos LIVERPOOL (2008), sowie Ramon Zurchers DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN (2013).

1.3 Zielsetzung

Es soll weder Ziel dieser Arbeit sein, eine mehr oder weniger vollständige Liste langsamer Filme zu erarbeiten, noch geht es um eine kritische oder inhaltliche Abhandlung der gewählten Filmbeispiele. Zielsetzung dieser Arbeit ist es vielmehr, formale Kriterien fur die technischen und stilistischen Ausdrucksmittel zu erarbeiten, mit denen Regisseure langsamer Filme arbeiten und diese auf ihre Wirkung zu untersuchen. Die formaltechnischen Merkmale, die in dieser Arbeit untersucht werden sollen, lassen sich durchaus auch auf Filme anwenden, die vielleicht nicht explizit oder implizit der Gruppe langsamer Filme zuzuordnen sind. Kamerafuhrung, Schnitt, Thema und Inhalt sowie Erzählstrukturen sollen analysiert werden u n d die in diesen Bereichen im Hinblick auf Reduktion und Verlangsamung wirksamen Faktoren sollen zu einer systematischen Aufstellung gelangen und diese durch Beispiele aus den oben genannten Filmen verdeutlicht werden.

II.
Langsamer Film

„You know, this film is much more simple. We are just talking about day by day. Our life is getting weaker and weaker and by the end it just disappears without any noise. You know? And this is the most tragic thing. And that's what I want to show. I really don't want to do more or less. It's totally enough.“
Belá Tarr, in an interview at the RIFF (Tarr 2011)
„Modern-day cinema takes the form of a sermon. You don't get to think, you only get to receive information. This film is not a sermon. The point of the film is not being delivered to you from the voice of the filmmaker. Hopefully, there are as many interpretations as there are viewers.”
Gus Van Sant in an interview (Van Sant 2004)

Geschichte, Charakteristiken, wichtigste Vertreter

Internationaler Film abseits des Mainstream-Kinos ist und war seit dem Ende des zweiten Weltkrieges, verglichen mit den Produktionen Hollywoods, immer schon langsamer (Vgl. Jaffe 2014, S. 5). Filme, wie die von Jim Jarmusch, Bela Tarr, Lisandro Alonso oder Ramon Zurcher tendieren jedoch im besonderen Maße zu Reduziertheit und Langsamkeit. Sei es die Reduktion der Story oder die auffallende Emotionslosigkeit der Charaktere bei Jim Jarmuschs fruheren Filmen, die Monotonie und Gleichförmigkeit der Filme Bela Tarrs, in denen Einstelllungen ungeschnitten bis zu 6 Minuten die Protagonisten etwa beim Essen von Kartoffeln oder ein Pferd beim Ziehen eines Fuhrwerks zeigen können – diese Filme neigen zum Extrem bei der Wahl der Mittel, die zu ihrem speziellen Ausdruck fuhren. Jedoch sind sämtliche unter dem Sammelbegriff langsamer Filme subsumierte Arbeiten, die Gegenstand dieser Untersuchung sein sollen, abendfullende Spielfilme, Vertreter des schon eingangs erwähnten Art-House Kinos.
Es ist nicht die vordergrundige Absicht langsamer Filme, ihre besonderen Merkmale und ihre Techniken der Verlangsamung – seien sie auf Ebene der narrativen Struktur, des visuellen Stils, ihres thematischen Inhalts oder des Verhaltens ihrer Charaktere – zu ihrem eigentlichen Inhalt zu machen. Sie sind nicht in dem Sinne experimentell, als das Experiment, in diesem Falle ihre Langsamkeit, zum eigentlichen Zweck des Films wurde. Jeder dieser Filme hat seine ganz eigenen Motivationen, Themen und Inhalte. Was die Langsamkeit dieser Filme ausmacht, ist vielmehr eine Summe von Merkmalen, anhand derer sie sich auf eine spezielle Art und Weise gruppieren und untersuchen lassen. Es gilt aber daruber hinaus festzustellen, dass es sich bei den Regisseuren der hier thematisierten Arbeiten weder um Vertreter einer speziellen Schule oder Richtung handelt, noch ließen sie sich einer bestimmten Generation zuordnen, auch kommen sie aus verschiedenen Ländern. Eine kurze Aufzählung offenbart ihre Diversität: Bela Tarr, geboren 1955, lebt und arbeitet in Ungarn. Jia Zhangke aus China wurde 1970 geboren, der Iraner Abbas Kiarostami 1940. Amerikanische Vertreter sind der 1952 geborene G u s Van Sant oder der 1953 geborene Jim Jarmusch. Der Argentinier Lisandro Alonso ist als einer der jungeren Vertreter 1975 geboren, der im April 2015 verstorbene Manoel de Oliveira war mit 106 Jahren wahrscheinlich ihr ältester. Die Liste ließe sich weiter fuhren.

2.1.1 Abgrenzung zu historischen Vertretern.

Erste Tendenzen der Reduktion und Verlangsamung finden sich, wie Paul Schrader in TRANCENDENTAL STYLE IN FILM ausfuhrt, bereits in den Filmen von Ysujiro Ozu, Robert Bresson und Carl Theodor Dreyer. Ihre Filme verschreiben sich in ihren Inhalten daruber hinaus einer gewissen Transzendentalität. So zuruckgenommen sie in ihrer Formalität erscheinen so schwer und gravitätisch sind ihre Themen (vgl. Jaffe 2014, S.3). So fuhrt etwa Dreyers „[...] Suche nach dem Essentiellen zur Komprimierung der Stoffe, zur Einschränkung der Mittel und zur Ablehnung von Schminke [...], um das Sichtbare durchlässig werden zu lassen: fur die innersten Regungen der Figuren und die Emanationen das Absoluten. In seinen Filmen, die zum Kammerspiel neigten, zeugten die Intimität der geschlossenen Räume und die Intensität der Großaufnahme fur Dreyers endoskopische Konzentration auf Details, das uber einen langsamen Rhythmus seine Schwingungen entfalten und in der Imagination des Zuschauers seine Resonanz finden soll.“ (Grob et al 2009, S. 22) Die Zurucknahme, die sich Ozu, Bresson und Dreyer in Bezug auf Emotion, physische Aktion, Kamerafuhrung, Schnitt, Mise en Scène in ihren Filmen selbst auferlegen, evozieren eine Atmosphäre von Trostlosigkeit und Deprivation, die auch in späteren langsamen Filmen noch spurbar ist, auch wenn sie in ihrer Bildsprache nun viel weniger Detailversessen agieren und sich der Totalen und Halbtotalen als zentralen Einstellungsgrößen zuwenden. Vertreter zeitgenössischer langsamer Filme tendieren jedoch in viel profanere und freudlosere Richtung (vgl. Jaffe 2014, S.3). Es lassen sich aber eindeutige Einflusse von Regisseuren wie Robert Bresson, Ysujiro Ozu, Rainer Werner Fassbinder, Buster Keaton, John Cassavetes in den Filmen Jarmuschs erkennen (vgl. Mauer 2009, S. 185f).

2.1.2 Zeitgenössische Vertreter und ihre Besonderheiten.

Der Filmemacher Jim Jarmusch selbst stellte im Rahmen einer Retrospektive seiner Arbeiten 2001 im Wexner Center for the Arts (Columbus, Ohio) Filme dieser Regisseure seinen eigenen gegenuber. (vgl. ebd.) STRANGER THAN PARADISE markiert jedoch eine deutliche Veränderung in einer lange Reihe von langsamen Filmen. Wenn jungere Vertreter des langsamen Kinos in ihren Techniken der Verlangsamung und der Reduktion vielfach von den oben genannten Kunstlern beeinflusst sind, so scheinen sie vielmehr noch in der Tradition des Kinos des Italienischen Neorealismus der 1940/50er zu stehen (vgl. Mauer 2009, S. 187). Doch wo Italienischer Neorealismus Anspruch auf dokumentarische Wirklichkeit erhebt, verliert sich dieser nun mit Jim Jarmuschs STRANGER THAN PARADISE zunehmend. Auch den meisten anderen Vertretern des langsamen Kinos fehlt dieser Anspruch auf dokumentarischen Realismus. Es muss hier jedoch genau zwischen Authentizität und Realismus unterschieden werden. Während langsame Filme, im Gegensatz zu den Filmen des Neorealismus, selten den Anspruch erheben, ihre Geschichten wären Abbildung von unmittelbarer Realität, so legen sie trotzdem in ihrer Darstellung besonderen Wert auf Authentizität. Der Realismus, bis hin zum Dokumentarischen findet sich hier also nur auf Ebene der Darstellung, auf Ebene der Form, viel seltener jedoch auf Ebene des Inhalts.

2.1.3 Spezifische Auswahl der Filme und Regisseure.

Auch formal markiert STRANGER THAN PARADISE eine extreme Position. Es ist die Geschichte ungarischer Immigranten, die eine „unbestimmte Bewegung“ (Mauer 2009, S. 188) vom New York der 1980er Jahre, uber Cleveland und Florida am Ende bis nach Budapest treibt. Der Film gibt nur sehr sparsam Auskunft uber die Beweg- und Hintergrunde seiner Protagonisten. 67 schwarzweiß Plansequenzen, von einander getrennt durch Schwarzblenden, verweigern jeglichen Eingriff mittels Montage. „Der Film kennt keine Großaufnahme und keinen sichtbaren Schnitt [...].“ (ebd., S. 188) Alle Szenenbilder sind von allen, fur die jeweilige Szene nicht benötigten Personen oder Requisiten geradezu entleert. Was bleibt sind drei Protagonisten, die weder Motivation noch Ziel, ja nicht einmal emotionale Tiefe, geschweige denn Affekt erkennen lassen. Was bleibt ist das auf das absolut notwendigsteReduzierte, um uberhaupt noch eine Handlung sich entfalten zu lassen. Diese Art der Reduktion auf das Notwendigste taucht immer wieder in dieser Art langsamer Filme auf. Lisandro Alonsos Filme, wie etwa Liverpool (2008) gehen in dieser Hinsicht an die Grenze. Wir begleiten einen Matrosen, Farrel, auf seinem Landurlaub auf Tierra del Fuego. Er will seine Mutter in einem kleinen abgelegenen namenlosen Dorf besuchen. Schon das Setting könnte kaum reduzierter sein. Doch treibt Lisandro Alonso diese Zuruckhaltung noch weiter. Erst nach knapp einer Stunde des 84-minutigen Films erreicht er das Dorf. Die alte Frau, der er dort begegnet, erkennt ihn nicht und so bleiben selbst die eigentlichen Verhältnisse zwischen den Figuren ungewiss. Weiters begegnet er einem alten Mann, dem Farrel durch sein Weggehen vor Jahren großen Kummer bereitet zu haben scheint und einem jungen Mädchen, das geboren wurde, kurz nachdem er das Dorf verlassen hatte. Farrel geht wie er gekommen ist. Ohne Aufhebens. Über die Beziehungen unter den Charakteren bleiben wir im Unklaren. Reduktion, Zuruckhaltung und Langsamkeit sind hier auf jeder Ebene bis auf die Spitze getrieben.

Die Dunkelheit, die die Welt in Bela Tarrs THE TURIN HORSE (2011) und in Andeutungen schon in WERCKMEISTER HARMONIES (2000) heimsucht, erzeugt ein diffuses, nicht näher definiertes Gefuhl der Bedrohung, die letztlich immer auch Bedrohung des Lebens bedeutet (vgl. Jaffe 2014, S. 158f). Bela Tarrs Filme sind geradezu getragen von dieser Bedrohlichkeit. Ja, selbst die Nicht-Verortung der Schauplätze in seinen Filmen verstärkt noch das Gefuhl der Isolation. Bela Tarrs Filme erheben in dieser Reihe langsamer Filme sicherlich den geringsten Anspruch auf Realismus. In WERCKMEISTER HARMONIES begleiten wir die Bewohner eines kleinen Dorfes: János, der gebildete aber naive Postbote, der alles sieht aber nie eingreifen kann; ein Polizeichef, der ob des sich zusammenbrauenden Unheils jederzeit bereit ist die Panzer einzusetzen; Tunde, die Frau des Komponisten und Musiktheoretikers György, d i e Ordnung und hartes Durchgreifen fordert, gegen eine unbestimmte Bedrohung. Dann ist da auch noch der Zirkus in der Stadt. Dieses Ensemble alleine böte genug, um einen sehr kurzweiligen Film zu schaffen. Doch Bela Tarr löst den Film in 39 Plansequenzen mit einer Gesamtlänge von 145 Minuten auf und auch hier wird uns immer wieder essentielle Information vorenthalten: Welcher Art ist die Bedrohung, die den Ort in Aufruhr versetzt. Immer wieder berichten Menschen inWERCKMEISTER HARMONIES von schrecklichen Vorfällen, jedoch sehen wir nie auch nur das geringste Anzeichen davon. Die Rede ist von Plunderungen, sogar Mord, aber die Ortschaft liegt ruhig vor uns.
Die in WERCKMEISTER HARMONIES noch diffus angedeutete Dunkelheit bricht in THE TURIN HORSE uber alles herein. Der Film endet in Schwärze. Aber auch hier erfahren wir keine Aufklärung. Ohlsdorfer, ein Bauer und seine namenlose Tochter leben gänzlich isoliert in einer sturmgepeitschten Einöde. Der Film ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Immobilität. Als Ihr Pferd aufhört zu trinken und ihre einzige Wasserquelle austrocknet, ist das Schicksal der Beiden besiegelt. Grunde werden nicht gegeben, denn wichtig ist nicht, warum das Pferd nicht frisst oder trinkt, wichtig ist nicht, warum die Quelle austrocknet, nicht warum die Beiden ihr karges Heim nicht verlassen können. Das alles sind die Gegebenheiten, genauso wie das unausweichliche Ende, das alles in Dunkelheit hullt. Sämtliche Reduktionen erwecken den Eindruck, als hätte man alles, was eine Erkenntnis aus diesem Experiment verfälschen könnte, einfach entfernt.
Fast wie eine Versuchsanordnung erscheint auch Ramon Zurchers erster Langfilm DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN (2014). Hier ist es aber kaum Dusternis und Melancholie, die den Film prägen. Die Szenerie ist klar umrissen: Eine Wohnung, vordergrundig die Kuche. Das Ensemble ist in seiner Zusammenstellung so stereotyp, dass die meisten der Protagonisten gar keine Namen bekommen: Vater, Mutter, Oma, die Kinder (diese haben Namen), Onkel, Tante, Cousinen, der Hund und das namengebende Kätzchen. Die Handlung entspinnt sich uber einen Tag, wahrscheinlich am Wochenende, die Familie kommt zum Essen zusammen. Am Ende bleibt die Mutter alleine in der Wohnung zuruck. Auch dieser Film gibt keine Details uber die Verhältnisse preis. Zum Schluss verlässt der Vater mit den Kindern die Wohnung. Warum bleibt die Mutter alleine? Der Film gibt keine Erklärung. Auch uber die psychischeVerfasstheit seiner Figuren erfahren wir nur, was uns der kurze Ausschnitt eröffnet. Am Ende wurden wir nicht Zeuge eines privaten Dramas, kein Konflikt wurde bewältigt, der Höhepunkt des Films ist die wiederborstige Wurst zum Abendessen. Ein ganz normaler Tag, der wirkt wie eine Versuchsanordnung, wie Zuchtungen in der Petrischale, in der sich alles in aller Ruhe beobachten lässt.
Was den Eindruck einer Versuchsanordnung erweckt, birgt jedoch eine Erwartungshaltung, ein bestimmtes Ergebnis, eine Erkenntnis zu liefern. Dem gegenuber steht aber, dass fast alle langsamen Filme jede Finalität verweigern (vgl. Grob et al 2009, S. 21). Sie enden, genau so wie sie begonnen haben, wie zufällig – wie Ausschnitte aus viel größeren Gefugen – als hätte man gerade nur ein Gespräch oder eine Szene am Nebentisch beobachtet. „Man könnte STRANGER THAN PARADISE jederzeit stoppen und das Publikum um Mutmaßungen uber den Fortgang der Geschehens bitten und man wurde keine eindeutigen Antworten bekommen, erklärte Jim Jarmusch einmal (Mauer 2009, S. 193f). Vielleicht gilt das fur die meisten dieser langsamen Filmen.

2.2 Techniken der Verlangsamung

Alle Vertretern dieser hier umrissenen Gruppe, so inhomogen sie auch sein mag, haben ihre Gemeinsamkeiten, die vor allem in formalen und technischen Aspekten bestehen. Was besonders auffällt ist, dass ein Gutteil der zur Anwendung gebrachten Techniken, Merkmale, ohne die die spezifische Wirkungsweise dieser Filme nicht möglich wäre, in Produktionen des Mainstream-Kinos vermieden, wenn nicht sogar als grobe Fehler gesehen wurden. In Folge soll auf diese Aspekte eingegangen werden.
Unter die Elemente der Reduktion und Verlangsamung auf Ebene des visuellen Stils fallen Kamerabewegung, Einstellungsgrößen, Licht, Ausstattung, Set, Montage etc. Weiters zeigen sich Formen starker Reduktion und Vereinfachung in allen Belangen der narrativen Struktur: der Erzählform, der raumzeitlichen Strukturierung, Ort und Zeit der Handlung etc. Die dritte Ebene der Reduktion, um Langsamkeit zu erzeugen, bezieht sich auf Thematik und Inhalte. Geschichte Ist oftmals auf das notwendigste Minimum reduziert. Selten lassen sich große, die Geschichte tragende Themen ausmachen, mehr noch, sie werden mit großer Sorgfalt vermieden. Zuletzt ist es die Reduktion im Verhalten ihrer Protagonisten, die kaum Schlusse auf die Charaktere dieser Filme zulässt. Oftmals sind die Figuren dieser Filme ungewöhnlich oberflächlich, zeigen kaum Affekt oder sind zumindest ausgesprochen introvertiert.
Reduktionen auf der diegetischen Ebene sind häufig und treten in jeder der oben beschriebenen Kategorien auf.

2.2.1 Verlangsamung in narrativer Struktur: Betonung des leeren Raumes

Lange Erzähldauer einzelner Sequenzen, eine Tendenz hin zur Echtzeitdarstellung, Aussparung von Höhepunkten oder Wendungen, eine flache Spannungskurve, das Auslassen oder Vorenthalten wichtiger Informationen, und sehr schwache bis gar keine Konfliktorientiertheit der Erzählung: das sind auf narrativer Ebene zentrale Bausteine langsamer Filme. Sie alle unterstreichen die Strenge, mit der langsame Filme den Fokus auf Leere, Unbewegtheit, Ruhe und Stille legen und die Aufmerksamkeit, die sie fur das Geheimnisvolle und Unbestimmte menschlicher Erfahrung aufbringen (vgl. Jaffe 2014, S. 110). „Most scenes are devoted to inaction: [...] moments that do not propel the action forward nor add information about the characters.“ (Suarez 2007, S.31) Die Betonung gerade raumzeitlicher Leere, der Focus auf den Momenten, da die Protagonisten eigentlich nichts tun, warten, sich vielleicht sogar langweilen, taucht zentral in allen langsamen Filmen auf. „Ich will sehen, was jemand bei der Arbeit tut, wenn er gerade nicht arbeitet oder wenn er von einem Ort zum anderen unterwegs ist.“ so Jim Jarmusch (Jarmusch 2010). Alles verschiebt sich vom „was sie tun“, hin zum „wie sie etwas tun“. Um zu beobachten wie etwas getan wird, braucht es die Zeit um druber zu reflektieren. Diese Zeit, die hier den noch so geringen Abläufen eingeräumt wird, bedingt auch die Verschiebung hin zur echtzeitlichen Darstellung. Gerade zeitliche Authentizität scheint sehr wichtig, da sie zu den spannungserzeugenden Elementen langsamer Filmen zu zählen ist. Die Kargheit und Zuruckgenommenheit an handlungstreibenden Elementen in langsamen Filmen, bedarf aber weiterer Elemente, um die Aufmerksamkeit des Zusehers an der Handlung aufrecht zu erhalten.
Hierzu gehört, was Gus Van Sant als „Open Film“ bezeichnet (vgl. Jaffe 2009, S.115). Das absichtliche Vorenthalten einer vorherbestimmten Bedeutung oder Lesart. Mehr noch, dem Zuseher werden nicht selten unmissverständliche oder essentielle Informationen vorenthalten. Im Zusammenhang mit langsamen Filmen ist daher nicht selten auch von einem „Witholding Cinema“ die Rede (vgl. ebd., S.114). Auch hier scheint es wieder, dass Macher langsamer Filme die Betonung gerade auf einen Aspekt legen, der im so genannten Mainstream-Kino als zu vermeiden gilt.
Langsames Kino lebt unter anderem vor allen durch seine Auslassungen. In Jim Jarmuschs Filmen werden zum Beispiel fast immer gerade jene Szenen ausgelassen, die sich wohl die
meisten Regisseure nicht entgehen lassen wurden. In STRANGER THAN PARADISE kauft Willie ein Flugticket nach Budapest, nur um seine Cousine Eva an ihrer Abreise zu hindern. Dem folgt das Missverständnis, und nicht Eva fliegt nach Budapest sondern Willie. Jarmusch zeigt uns in seinem Film aber nicht Willies vielleicht verzweifelte Suche nach seiner Cousine im Flugzeug, ein Ringen um eine Entscheidung oder Willie, der das Flugzeug nicht mehr rechtzeitig verlassen kann. Alles, was wir sehen ist Willies Freund Eddie, der einem abfliegenden Flugzeug nachblickt, begleitet vom lakonischen Kommentar: „[...] I had a bad feeling ... Damn ... What the hell you gonna do in Budapest?“ (ebd., S. 24) Gerade in diesen Auslassungen liegt jedoch der Reiz fur den Betrachter, der hier aufgefordert ist die Leerstellen selbst zu fullen.
Was in diesem Fall eine Auslassung kennzeichnet, die innerhalb der Narration eine fur den Zuseher leicht zu schließende Lucke darstellt, kann bei Lisandro Alonso soweit gehen, essentielle Informationen vorzuenthalten. In LIVERPOOL wird das Publikum gänzlich uber die Motive der Protagonisten, ihre Hintergrunde, ja sogar Beziehung zueinander im Unklaren gelassen. Lisandro Alonso neigt diesbezuglich selbst in der Gruppe elliptischer Erzählungen zum Extremen. Gerade dadurch, dass langsame Filme dem Publikum Zeit geben uber das, was es sieht, nachzudenken, von ihm fordert, die Lucken selbst zu schließen, kann man sich auf das Rätselhafte, das diese Auslassungen erzeugen, einlassen.
„Die Grundstruktur jeder Geschichte ist einfach: Anfang, Mitte und Ende. Wir können diese drei Abschnitte auch als drei Akte bezeichnen...Im ersten Akt wird die Geschichte aufgebaut (die drei Konfliktebenen [materieller, intellektueller und emotionaler Konflikt] entstehen), im zweiten Akt wird sie entwickelt (die Konflikte intensivieren sich), im dritten Akt gelöst (die Konflikte werden entschieden)“ (Hant 1992, S. 75). Was im Mainstream-Kino zentrales Motiv zur Handlungssteuerung und z u m Spannungsaufbau ist, der Konflikt, wird in langsamen Filmen vermieden. Teil dessen, dass oftmals gar kein Konflikt etabliert werden kann, ist die oben schon erwähnte Zurucknahme der psychischen Verfasstheit oder das Verschweigen der Biographien der Charaktere. Nicht, dass es keinerlei Konflikte gäbe. Willie in STRANGER THAN PARADISE ist klar im Konflikt mit seiner ungarischen Herkunft. Dies erfahren wir sowohl, wenn er immer wieder betont „amerikanisch“ zu sein, als auch wenn er seineCousine Eva und seine Tante am Telefon auffordert, nicht in seiner Muttersprache mit ihm zu sprechen (vgl. Jaffe 2014, S. 20).
Auch findet sich zum Beispiel in Bela Tarrs THE TURIN HORSE ein klarer Konflikt in der Lebenssituation und der Zukunftsperspektive (Tod) der beiden Hauptpersonen. Jedoch bergen
diese Konflikte nicht das Potential Handlung voranzutreiben, sie taugen weder als Motiv noch als Motivation fur die Charaktere. Statt dessen adaptieren langsame Filme eher eine elliptische Erzählform und eine Dramaturgie der Reihung, die eine gewisse Willkur oder Beiläufigkeit unterstreichen, oder sie verweigern Handlungsbewegung gänzlich (vgl Grob et al 2009, S. 21). Die narrativen Konventionen langsamer Filme richten sich „gege n eine narrative Konvention, die im Mainstream vom Zuschauer einfordert, monokausale psychologische Recht-fertigungen als Motivierung zu akzeptieren, weil davon ausgegangen wird, dass der Rezipient Filmfiguren nicht als reale Menschen einstuft und ihr Verhalten kaum nach den Maßstäben der (viel komplexeren) Wirklichkeit bewertet.“ (Mauer 2009, S.193) Elliptische Erzählformen, Non-Plot-Strukturen und Konfliktverweigerung sind daher durchaus als Versuch der Annäherung an die Komplexität von Realität zu verstehen.
2.2.2 Verlangsamung im visuellen Stil: Die unbeteiligte Kamera
„Plansequenzen mit aufwändigen, ausgeklugelten Kamerafahrten [...] betonen uber ihre Kunstfertigkeit tendenziell ihre Kunstlichkeit der Diegese, während statische oder unmerklich bewegte Plansequenzen [...] eher den Anschein von Realismus verstärken. Daraus folgt, dass die Plansequenz nicht per se ein Signum von Realismus oder von Minimalismus ist, sondern erst durch eine minimalistische Ausgestaltung (reduzierte Kamerabewegung, entdramatisierte Ereignisse) als Bestandteil eines Kino des Realismus erscheint.“ (Mauer 2009, S. 188) Bela Tarrs besondere Betonung von temporaler Authentizität tritt in seinen Filmen noch mehr hervor als in den Filmen anderer Regisseure langsamer Filme. Dabei verlässt er sich besonders auf die Wirkung von Plansequenzen, wie sie hier beschrieben wurden. Während beide Filme jeweils eine Länge von 145 Minuten bzw. 146 Minuten aufweisen, beschränkt er sich in der szenischen Auflösung auf jeweils nur 39 Sequenzen in WERCKMEISTER HAMONIES und 30 Sequenzen in THE TURIN HORSE. In Lisandro Alonsos LIVERPOOL dauert die Fahrt auf der Ladefläche eines Lastwagens von Ushuaia, dem Hafen von Tierra del Fuego, in das namenlose Dorf seiner Herkunft 2:53 Minuten. Während dieser Fahrt passiert nichts weiter, als dass ein mitreisender Passagier bei einem Halt absteigt, es findet kein Dialog statt. Ginge es darum, die Handlung voran zu bringen, könnte man Farrel zeigen, wie er den Lastwagen in Ushuaia besteigt und bei seiner Ankunft in dem kleinen Dorf absteigt. Man musste hierfur nicht knapp drei Minuten der Filmzeit aufwenden. Ginge es um die Schönheit Tierra del Fuegos, könnten auch noch einige Sekunden Landschaftsimpressionen zu sehen sein. Was man stattdessen sieht, ist die Tristesse nicht asphaltierter Straßen in einer grauen, unwirtlichen, kalten Einöde. Die ununterbrochene Sequenz vermeidet durch ihre Länge die Steuerung der Aufmerksamkeit des Publikums. Der Betrachter bleibt sich hier selbst uberlassen, die Kamera macht keinen Unterschied zwischen tragenden und nebensächlichen Handlungselementen oder Objekten.“Die Selbstbeschränkung des Regisseurs, die Découpage zu vermeiden und statt dessen dem Geschehen in Totalen und Plansequenzen beizuwohnen, ermöglicht dem Betrachter eine möglichst ungefilterte Sicht auf die diegetische Wirklichkeit.“ (Mauer 2009, S.189)
Während in den klassischen Montagekonventionen mit ihrem Wechsel der Einstellungsgrößen dem Geschehen seine Bedeutung zugewiesen wird, möchte Jarmusch „seinem Zuschauer Freiheit und Raum geben seinen eigenen emotionalen wie intellektuellen Standpunkt gegenuber dem Geschehen einzunehmen.“ (Mauer 2009, S.189) In langsamen Filmen uberwiegen die Einstellungsgrößen Totale, Halbtotale und Halbnahe, vor allen auch „als Antwort auf die enge Zuschauerfuhrung“ (ebd.)
Eine Technik, die in vielen langsamen Filmen zur Anwendung kommt, ist es, die subjektive Perspektive der zentralen Charaktere zu verweigern. Es ist dem Betrachter nicht gegeben, das Geschehen oder die Szene aus dem Blickwinkel des Protagonisten zu erleben. Dies fuhrt zu einer Distanzierung zwischen dem Publikum und den Figuren im Film.Subjektive Kameraeinstellungen kommen sehr selten zum Einsatz. Diese Technik erschwert nicht nur die Identifikation mit den Protagonisten, es nimmt den Figuren gleichzeitig weitgehend die Fähigkeit zu Handlungsträgern der Geschichte zu werden, da die Kamera nicht an Ihrem subjektiven Erleben teilnimmt. Wenn Willie, Eddie und Eva am Strand des Erie-Sees die Schönheit der Natur bestaunen, so sehen wir nichts als das verschwommene Weiß eines zugefrorenen, verschneiten Sees im Hintergrund. Auch Lisandro Alonsos Farrel blickt in Liverpool oft in die Ferne Tierra del Fuegos, doch zeigt uns Alonso nie das, was Farrel sieht. Wie weit der Regisseur dabei geht, dem Betrachter densubjektiven Blickwinkel vorzuenthalten, zeigt die schon erwähnte Szene, in der Farrel auf dem Lastwagen in das namenlose Dorf reist. In dieser Plansequenz zeigt die Kamera einmal eine Perspektive, die so nah an einer subjektiven Perspektive Farrels liegt, dass Alonso seinen Protagonisten noch einmal ins Bild kommen läst und zwar so, dass auszuschließen ist, dass es sich um seine Sicht handeln könnte (vgl. Jaffe 2014, S 113). Eine weitere Möglichkeit, die die Konzentration auf weite Einstellung bietet, ist es, Figuren die sich in Bewegung befinden, bewegungslos wirken zu lassen, indem sie in einem Bildteil fixiert werden. Dadurch ist es der Kamera möglich, selbst von rennende Personen einen statischen Eindruck zu erwecken (vgl. Jaffe 2014, S.162).

Im Allgemeinen ist es aber die Kamera, die in langsamen Filmen statisch bleibt. Tut sie dies nicht, ist es selten die Kamera die sich auf die Figuren und das Geschehen vor der Kamera einlässt. Wie sehr oft in den Filmen Bela Tarrs, scheint es, als wurde viel mehr die Bewegung der Kamera die Bewegungen der Figuren diktieren. Figuren gehen der Perspektive der Kamera verloren und eilen sich, um wieder mit dem Kamerabild aufzuschließen. (vgl. Jaffe 2014, S.163) Dieser Kamerabewegung gegenuber steht die Kamera in Ramon Zurchers DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN. Hier ist die Kamera so gut wie immer statisch, wenn auch genauso unbeteiligt gegenuber dem Geschehen vor der Kamera. Wie zum Trotz bleibt sie immer wieder in einer Einstellung verharren, obwohl sich die Handlung schon längst aus ihrem Blickwinkel entfernt hat.
So wie der Filmemacher schon in der gesamten Kamerafuhrung beständig versucht ist, seinen Einfluss auf die enge Lenkung der Aufmerksamkeit des Zuschauers zuruckzunehmen, so ist ihm auch bei der Montage daran gelegen, seinen Einfluss so gering wie möglich zu halten. Die Verknupfungsarbeit der Filmbilder mit der Welt wird dem Zuschauer uberlassen „und offeriert diesem damit Möglichkeit, an der Arbeit, die der Filmemacher leistet, teilzuhaben.“ (Grob et al 2009, S.12) Das Tendieren hin zu lange, statischen Sequenzen ist ein Ergebnis hieraus. Jim Jarmuschs STRANGER THAN PARADISE stellt wie schon beschrieben eine extrem Position dar, in dem nicht nur lange Plansequenzen aneinander gereiht werden, sondern diese mittels Schwarzblenden auch noch von einander entkoppelt werden. (vgl. Jaffe 2014, S.18f) Generell ist die Schnittfrequenz in langsamen Filmen niedrig und unregelmäßig. „Intellektuelle, symbolische oder emotionale Forcierungen uber Kontrast-, Parallel- oder Kollisionsmontagen werden vermieden.“ (Grob et al 2009, S. 21)
2.2.3 Verlangsamung in Thematik und Inhalt: Non Plot Ultra.
In langsamen Filmen geht es darum „das Alltäglichste intensiv sichtbar, ästhetisch erfahrbar werden zu lassen [...] „Less is More“, das heißt vor allem: das Allereinfachste in seiner bloßen Existenz zu wurdigen und dabei/dazwischen das Lebendige darin nachklingen zu lassen. Es heißt: Im vermeintlich Nebensächlichen das Wichtige, im Kleinen das Große, im Belanglosen das Bedeutsame zu entdecken und es, so es in andere Zusammenhänge gebracht ist, mit immer neuen Nuancen, in immer anderen Facetten glänzen zu lassen“ (Grob et al 2009, S. 10)

Diesen langsamen Filmen ist die große Erzählung genauso fremd, wie ihre Handlung vor dem bewegten Hintergrund der Geschichte zu entfalten. Das Private seiner Figuren bleibt ausgespart (vgl. ebd.). So wie die Geschichte des Farrel in LIVERPOOL nicht in einer großen Erzählung mundet, bleibt das Publikum auch uber seine Vergangenheit und seine Zukunft im Unklaren. Auf Inhaltlicher Ebene bieten diese Filme kaum Potential fur Ereignishaftigkeit oder großes Erzählkino. Jim Jarmuschs Aussage, dass er lieber einen Film uber einen Mann machen wurde, der seinen Hund nach Draußen fuhrt, als uber den Kaiser von China (vgl. Jaffe 2014, S.15), soll zwar sicher nicht als eine Spitze gegen Bernardo Bertolucci verstanden werden, trifft aber den Kern der Intention langsamer Filme, nämlich ihr Interesse an der Schilderung von Alltagsszenen. In der Authentizität dieser Darstellungen gehen Regisseure oft soweit, Story im eigentlichen Sinne ganz zu verweigern, bis hin zum Non-Plot, und sich ganz auf die Präsenz der Figuren und ihrer Darstellung zu verlassen.
Große Monomythen sind niemals die Grundlage fur diese Art der zuruckgenommen Geschichten. Den Helden langsamer Filme, wenn man sie uberhaupt so nennen will, bleibt der Ruf des Abenteuers verwehrt. Ereilt er sie doch, so bleiben sie passiv. Die Verweigerung des Rufes (vgl. Vogler 2007, S.107), wie er im Erzählkino oft vorubergehende Station im Handlungsgefuge ist, bleibt im langsamen Kino nur all zu oft finale Position. Ein zentrales Motiv langsamer Filme ist gerade die Unfähigkeit seiner Protagonisten uberhaupt zu handeln (vgl. Jaffe 2014, S.159). Diese Unfähigkeit ist jedoch nicht Thema einer Katharsis, die zu einer Auflösung eines Konflikts fuhrt, da eine der Grundhaltungen langsamer Filme gerade die grundlegende Unveränderlichkeit des Menschen ist. So bleibe „das grundlegende emotionale Thema einer Person [...] ein Leben lang gleich, es werde nur verstärkt, geschwächt oder variiert [...].“ (Mauer, S.194) „In ihren Filmen gibt es keine Raumschiffe, die sich im Walzertakt drehen, keine rasant montierten Verfolgungsjagden, die zu einer endgultigen Entscheidung fuhren, und keine Katastrophen, die alles zermalmen. Keine Morde im Detail und keine romantischen Liebesszenen mit aufbrausendem Orchester oder angesagtem Popsong.“ (Grob et al, S.10)

2.2.4 Verlangsamung auf Ebene der Charaktere.

Den extrovertierten, aktionsorientierten Helden des Mainstream-Kinos steht im langsamen Film der stille, introvertierte und oftmals fast regungslose Typus gegenuber. Die Schauspieler in den langsamen Filmen enthalten sich pathetischer oder expressiver Darstellung. Nüchternes Unterspielen steht vor großen oder ikonischen Gesten. Sehr häufig kommen Laiendarsteller zum Einsatz (vgl. Grob et al 2009, S. 21). Oftmals steht das Portrait einer Person vor der ohnehin schon sehr sparsamen Handlung. Jedoch fallen in diesem Zusammenhang die großen Aussparungen auf, die bei der Zeichnung der Figuren vorhanden sind. So stellt sich die Frage, wie eine Charakterzeichnung trotz der „[..] Verweigerung der Vergangenheit der Figur (Backstory), ihrer Zukunft und Handlungsabsichten (externe Fokalisierung und offenes Ende), ihrer Persönlichkeits-Entwicklung (Non-Plot) und ihrer emotionalen Reaktion (Stone-Face)“ (Mauer 2009, S. 196F) uberhaupt möglich ist. Eine Antwort auf diese Frage mag das schon erwähnte Vertrauen auf die schiere Präsenz der Figuren sein. Sind es bei Jarmusch Darsteller, denen der Regisseur seinen Film sozusagen auf den Leib schreibt, um das maxiale Wirkungspotential durch ihre bloße Anwesenheit zu erreichen (vgl. Mauer 2009, S. 197), so ist es bei Lisandro Alonso, dessen Figuren in ihrer Biographie noch viel reduzierter sind, viel schwerer sie als Träger einer Handlung zu akzeptieren. Dies wird auch noch durch die schon oben beschriebene Kameraarbeit befördert. Dadurch, dass die Kamera die Figuren als zentrale Motive ihrer Perspektive verweigert, entgleiten sie auch dem Publikum als Subjekte der Identifikation.
In Ramon Zurchers DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN ist es wiederum nicht das Charakterportrait der Figuren, das zur Identifikation einlädt, sondern vielmehr die Vertrautheit der familiären Atmosphäre der Szene. Hier ist es gerade die Zurucknahme der individuellen Präsenz der Figuren, die Identifikation ermöglicht, jedoch, den Prinzipien des langsamen Films folgend, ungeleitet durch den Einfluss des Regisseurs oder die suggestive Kraft der Kamera oder des Schnitts.
Die Reduziertheit in Charakter und Handlung der Figuren langsamer Filme erfullt allerdings auch den Zweck, dass Eigenschaften einzelner Figuren nicht unbeabsichtigt zu Luckenfullern fur die Auslassungen werden, die die narrativen Strukturen oder die Handlung hinterlassen. Weder die Charaktere noch ihre Biografien durfen Antworten auf die in Schwebe gehaltenen Fragen der Erzählung geben, darin liegt ein zentraler Punkt ihrer Opposition gegenuber konventionellem Erzählkino. In Bela Tarrs Filmen WERCKMEISTER HARMONIES und THE TURIN HORSE macht die Sprachlosigkeit der Charaktere sie geradezu zu Komplizen der Ungewissheit und der unbestimmten Bedrohung. „The silence and inarticulatenes of key characters obviously contributes to the indeterminacy. Both what is happening and why it is happening prove difficult to know. Yet though indeterminacy obscures conduct and limits prospects of rebellion in slow movies, it ensures that these films are rebellious in their form or style.” (Jaffe 2014, S. 151f)
So wie Lisandro Alonso geht eine Reihe von Machern langsamen Kinos so weit, von ihren Darstellern zu fordern, sie sollen möglichst nichts ausdrucken, die Mimik und Gestik auf ein Minimum reduzieren. Dies erzeugt zwar eine Distanziertheit im Ausdruck, bietet andererseits aber eine Möglichkeit: langsame Filme verlassen sich besonders stark auf den Kuleshov Effekt, wobei der Betrachter geneigt ist den unbewegten, ausdruckslosen Gesichtern der Figuren assoziativ Bedeutungen zu-zuschreiben (vgl. Jaffe 2014, S.119). Macher langsamer Filme wenden diesen Effekt allerdings nicht nur im Bezug auf direkte emotionale Verfassung Figuren an. Sie gehen soweit, Ähnliches auf ganze Sequenzen anzuwenden, wenn sie den unmittelbaren Inhalt oder Sinn einer Szene nicht offenkundig werden lassen. Auch in diesem Fall, ist der Zuschauer geneigt, die Lucken zu schließen, die eine elliptische Erzählung offen lassen (vgl. Jaffe, S.124). Die Verweigerung von Charaktertiefe, Biografie oder Absichten der Figuren, genauso wie die Indeterminiertheit der Erzählung im Allgemeinen, wird weiters unterstutzt durch die starke Reduktion in Dialogen. Sehr viele langsame Filme weisen kaum Dialoge auf, diejenigen die uber mehr Dialog verfugen, bleiben darin stereotyp, lakonisch oder banal.

2.2.5 Der diegetische Raum: Weniger ist mehr

Die diegetische Ebene ist diejenige, auf der sich fast all die Reduktionen, von denen hier bisher die Rede war, auswirken: sei es auf Ebene der Narration mit ihren zahlreichen Auslassungen; auf inhaltlicher Ebene die vorenthaltenen Informationen zur Geschichte oder Biografie der Figuren und ihrer Umwelt; auf Ebene der Charaktere deren eingeschränkte Artikuliertheit und Gefuhlsarmut, die sie auch kaum auf Reize ihrer Umwelt reagieren lässt. Einzig auf visueller Ebene vermittelt die Kamera einen möglichst uneingeschränkten Eindruck. Es scheint, als wurden sich Regisseure zeitgenössischer langsamer Filme besonders auf das visuelle Bild verlassen, um einen authentischen Eindruck dessen zu vermitteln, was innere Welt des Filmes ausmacht. Die Wahl immer möglichst weiter Einstellungsgrößen unterstreicht diesen Hang zu einer möglichst unverfälschten und umfassenden Darstellung des Abzubildenden. Dies bedeutet, dass der diegetische Raum langsamer Filme in erster Linie ein visueller Raum ist, der kaum uber die Begrenzung des Filmbildes hinausreicht. Die meisten Macher langsamer Filme neigen hier zum Minimalismus. Dies ist wieder dem Umstand geschuldet, dass möglichst wenig symbolischer oder assoziativer Gehalt im diegetischen

Raum des Filmes abgeladen werden soll, der den Betrachter zu vorgegebenen Assoziationen oder Lesarten verleiten könnte. Innerhalb dieser Begrenzung ist zumeist Ausstattung, Kostum und Maske ausgesprochen spärlich. Alle uberflussigen Requisiten sind aus den Innenräumen entfernt, Exterieurs sind frei von Statisten oder Nebendarstellern. Die Szenen langsamer Filme sind wie leergeräumt, bis auf die wenige Figuren, die den Film tragen, entvölkert. Die Reduzierung von Elementen der Ausstattung und des Dekors in einer Szene hilft wiederum, das zu betonen, was von den Figuren ubrig bleibt. Alles, das in einem derartig reduzierten diegetischen Raum ubrig bleibt, hat Bedeutung (vgl. Mauer 2009, S. 199). Drehorte sind zumeist Realschauplätze, ohne jedoch die Authentizität des Ortes hervorzuheben oder sich auf diesen als Instanz der Ikonographie zu verlassen. Das New York der 1980er Jahre in Jim Jarmuschs STRANGER THAN PARADISE ist nicht das New York von Martin Scorseses TAXI DRIVER (1976). Tatsächlich könnte es genauso gut Detroit oder Chicago sein. Tierre del Fuego könnte auch jeder andere abgelegene Ort sein, der nur kärglich und unwirtlich genug ist. Was in langsamen Filmen aber vermieden wird, sind belebte, uberladene, symbolische oder exotische Räume. (vgl. Grob et al, S. 21) Der Zuschauer erfährt aus dem diegetischen Raum langsamer Filme nur ausgesprochen selten etwas uber die Welt die sie darstellen.

III.
Abschließende Bemerkungen

„Ich erinnere mich an einen alten Film: Dreißig Sekunden über Tokio. Das Leben war unterbrochen während dreißig wunderbarer Sekunden, in denen nichts geschah. In Wirklichkeit geschah alles. Kinematograph, Kunst, mit Bildern nichts abzubilden.“
Robert Bresson in Notizen zum Kinematographen (Bresson 2007, S. 95)

„We’d rather have the freedom or liberty or the open space to create a universe which can go in different directions, not a slave to a genre. Anything could happen because there’s not a story being told where this, this and that have to happen. Different atmospheres and moods can happen but it needs to have a certain unity. Atmosphere, portrait, ambience — but it’s not an anti-film. There’s little hidden stories under the surface. Not the most important things, they are just there.”
Ramon Zurcher uber DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN (Zurcher 2014)

Zusammenfassende Erkenntnisse

In dieser Arbeit wurde versucht, einen ersten Überblick uber Techniken und Strategien einer Guppe von Filmen zu geben, die hier im allgemeinen als langsame Filme charakterisiert wurden. Dabei waren es in erster Linie formale Gesichtspunkte, die in der Auseinandersetzung mit diesem Thema ausschlaggebend waren. Wie bereits erwähnt, lassen sich bei den Filmen der hier besprochenen Regisseure und auch ihrer Kollegen, die hier aus Zeit- und Platzgrunden keine Erwähnung finden konnten, kaum andere inhaltliche Übereinstimmungen finden, als ein gewisser Hang zur Darstellung von Alltäglichem und Themen wie Tod und Tristesse. Und selbst hierzu ließen sich jederzeit Ausnahmen aufzählen. Ramon Zurchers DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN tendiert nur sehr bedingt zu der eben beschriebenen dusteren Atmosphäre.
Was sind nun diese langsamen Filme? Wie lassen sie sich abschließend charakterisieren. Was sind die Geneinsamkeiten, die sie zu trotz all ihrer Unterschiede zu einer Gruppe vereinen?
Zunächst ist es die Positionierung gegenuber einem Kino des Mainstreams, in ihrer Absage an die Konventionen des Sensationellen und der Attraktionen. Dies geht soweit, dass langsame Filme oftmals fast zur Gänze auf Handlungsorientiertheit oder eine klar auszumachende Story verzichten. In Ihrer Gegenpositionierung zu ublichen Gepflogenheiten der engen Zuschauerfuhrung durch Einstellungsgrößen, Decoupage, Suspence, Parallelmontage, Drei- Akt-Model und Heldenreise, oder Verzicht auf Katharsis oder Konflikt zur Entwicklung ihrer Geschichten grenzen sie sich deutlich von Filmen ab, die die Erwartungshaltungen des Publikums einer breiten Masse bedienen. Dass Filme dieser Art eher nicht an kommerziellem Erfolg orientiert sind, sondern sich mehr an ein Nischenpublikum richten, ist eine daraus resultierende logische Folge.
Die Macher dieser langsamen Filme beziehen sich, in Ihrer Vermeidung von Eingriffen zur Steuerung der Aufmerksamkeit des Publikums durch Montage und Kamerafuhrung, auf das Kino des Italienischen Neorealimus. Wo der Italienische Neorealismus jedoch stark den dokumentarischen Charakter seiner filmischen Arbeiten betont, beschränken sich zeitgenössische langsame Filme zumeist auf Authentizität in der Darstellung, in Ihrer Form also, während sie diese Authentizität in ihren Inhalten, also auf Ebene der Story und bei ihren Charakteren vernachlässigen. Daruber hinaus liegt eine starke Betonung auf temporaler Authentizität, das heißt auf der Echtzeitlichkeit der Darstellung, vor allem auch um die filmische Erfahrung zu einer realen, tatsächlichen Erfahrung von Zeit und (filmischem) Raum werden zu lassen. Im Allgemeinen uben sie sich in starker Reduktion in den gestalterischen Elementen.
Die Kamera in diesen Filmen ist zumeist statisch, wenn sie sich bewegt, bewegt sie sich sehr langsam, geradlinig, und zumeist weitgehend unabhängig von den Protagonisten. Dies verstärkt den Eindruck einer distanzierten Kamera, die den Standpunkt eines unbeteiligten

Beobachters einnimmt. Die vorherrschenden Kameraeinstellungen sind die Totale, die Halbtotale und die Halbnahe, während nahe Einstellungen und Großaufnahmen vermieden werden.
Auffällig ist, dass von sehr vielen Filmemachern dieser Gruppe, die subjektive Perspektive ihrer Figuren vermieden oder gar verweigert wird. Auch dies unterstreicht die Distanziertheit der Kamera gegenuber ihren Protagonisten und erschwert die Identifikation des Publikums mit zentralen Figuren der Filme.
Die Plansequenz ist ein zentrales und immer wiederkehrendes Merkmal dieser Gruppe von Filmen. Zum einen wird diese eingesetzt, um Forcierungen der Aufmerksamkeit des Publikums auf einzelne Elemente des Handlungsverlaufes zu vermeiden und eine gewisse Egalisierung zwischen scheinbar wichtigen und scheinbar unwichtigen Figuren, Objekten oder Handlungen herzustellen. Zum anderen wird die Plansequenz als Mittel verwendet, um temporale Authentizität zu vermitteln. Außerdem ist es so möglich, auch Forcierungen durch Montage weitgehend zu vermeiden. Die Montage langsamer Filme ist unrhythmisch und weist generell eine sehr niedrige Frequenz auf.
Auf erzählerischer Ebene neigen diese Arbeiten zu elliptischen Erzähstrukturen, was vom Betrachter immer wieder einfordert, zum Komplizen des Filmemachers zu werden und die dadurch entstehenden Lucken selbst zu schließen. Dies kann als Mittel gesehen werden, die Aufmerksamkeit des Betrachter zu binden. Eindeutige Lesarten werden zumeist vermieden, Finalität oftmals verweigert. Die Spannungskurven langsamer Filme verlaufen immer sehr flach und es finden sich kaum Höhe- oder Wendepunkte in der Story, die weitgehend einer Struktur der einfachen Reihung von Szenen verpflichtet ist. Diese Erzählstruktur der Reihung korrespondiert mit dem thematischen Fokus langsamer Filme, der auf dem Alltäglichen liegt, dem großen Interesse an den Kleinigkeiten, ohne hier jedoch Wertungen zu forcieren. Das persönliche Drama zum Kern einer Erzählung zu machen liegt langsamen Filmen fern. Konflikt, im klassischen Erzählkino zentrales Element der Handlungsentwicklung und -steuerung, wird in zeitgenössischen langsamen Filmen vernachlässigt oder vermieden, was zu schwacher Handlungsgetriebenheit, zu geringer bis keiner Charakterntwicklung, sogar bis hin zum Non-Plot fuhren kann. Überhaupt verweigert langsamer Film seinen Figuren oftmals das Potential, zu Handlungsträgern zu werden. Dialoge sind spärlich, lakonisch oder gar banal und entsprechen hierin dem kargen und bis auf die absolut notwendigsten Elemente entleerten diegetischen Raum.
Scheinbar stellen sich diese langsamen Filme in fast jedem ihrer gestalterischen Elemente vehement gegen ein Erzählkino des Mainstreams. Auch wenn paradoxerweise einzelne Vertreter, wie Jim Jarmusch, geradezu Ikonen des selben darstellen. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass sie sich bewusst und mit voller Absicht in dieser Opposition befinden. Was faszinierend erscheint ist, wie sie trotz ihrer selbstauferlegten Einschränkungen wunderbare und poetische Filme schaffen, die immer wieder Anklang und kritische Beachtung finden.

3.2 Resume über poetische Reduktion

Oberflächlich betrachtet könnte man langsame Filme nur als bewusst gesetzten Gegenpol zum immer „schneller werdenden“ Mainstream-Kino sehen, man wurde dann den Intentionen der Macher langsamer Filme nicht gerecht werden.Wo Erzählkino den Zuschauer, im ubertragenen Sinne, bei der Hand nimmt und ihn durch seine Geschichten fuhrt, ihn ständig in seinen Bildern und seinem Gestus auf Bedeutsames und Bedeutungszusammenhänge hinweist und durch präzise Anwendung seiner gestalterischen Techniken einen symbolischen und assoziativer Raum vorgibt, bleibt der in dieser Arbeit beschriebene zeitgenössische langsame Film immer zuruckhaltend. Was hier geschieht ist fast das genaue Gegenteil: In seiner Zuruckgenommenheit uberlässt er den Zuschauer sich selbst. Die Poesie dieser langsamen Filme legt den Ausdruck auf stille Feinheiten, die er in eine Leere bettet, die dem Betrachter kaum vorgeben, wie er diese Filme zu lesen oder zu verstehen hat. Genau in diesem auf sich selbst zuruckgeworfen sein liegt die Kraft der ganz eigenen Erkenntnis, in der nicht der Zuseher vordergrundig etwas vom Film uber den Film erfährt, vom Filmemacher uber dessen Weltanschauung, sondern der Betrachter selbst es ist, der etwas uber sich selbst aus seiner ganz eigenen und individuellen Lesart erfährt.
Hierin liegt die besondere Kraft und der Reiz dieser Filmeauch wenn es eine Herausforderung sein kann sich auf ihren Minimalismus einzulassen. Lisandro Alonso geht soweit, dem Zuschauer zu zugestehen, das Kino zu verlassen, wenn sie sich nicht auf auf die Langsamkeit und Kargheit seiner Filme einlassen können oder wollen (vgl. Jaffe 2014, S.116). Wer es jedoch fertig bring, die Geduld und das Einfuhlungsvermögen aufzubringen, wird ein höchst ergiebiges Feld an Möglichkeiten des Ausdrucks und er besonderen Erfahrung vorfinden.

Literaturverzeichnis:
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